Farman

FARMAN

DAS BUCH

Es sollte eine Frage der Zeit sein, bis uns unsere Identität wieder einholt.

Nach einer turbulenten Zeit in meiner Jugend hatte ich es in letzter Sekunde doch noch geschafft. Ich entschied, meinen Eltern gegenüber wieder gutzumachen, was ich verbockt hatte. So riss ich mir den Arsch auf, bekam meinen Abschluss und schrieb Bewerbungen. Letztlich bekam ich einen Studienplatz für die Fakultät Wirtschaftsrecht in Osnabrück und besuchte so als erster Bako unserer Geschichte eine Hochschule. So hätte es von mir aus weitergehen können. Doch es kam anders. Am 3. August 2014 überfallen Mörder des Islamischen Staates das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden in Shingal. Tausende werden binnen weniger Stunden hingerichtet, über 6.000 Frauen in das Kalifat verschleppt, zehntausende Kinder zu Waisen gemacht und ein ganzes Volk in die Flucht getrieben. Die Brutalität, mit der der IS seine Angriffe durchzieht, lässt der Welt den Atem stocken. Es ist der jüngste Genozid unserer Zeit. Für meinen Vater, der beim Völkermord gegen die Kurden im Jahre 1988 seine erste Familie verloren hat, stand schon fest, dass er in seine Heimat zurückkehren und gegen den IS kämpfen wird. Es ist der Beginn der größten Konfrontation, die ich, allen voran mit mir selbst, führe, um über meinen Schatten zu springen und ihm heimlich zu folgen. An meiner Geburtsstätte angekommen, treffe ich auf Waisenkinder, die alles verloren haben und mit nichts an einer Kreuzung stehen. Ab hier beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Bevor auf dieser Reise der Verein Our Bridge, ein Waisenhaus und später eine Waisenschule für über 400 Kinder gegründet werden kann, sollte ich verstehen lernen, wie unterschiedliche Parameter und Koeffizienten so miteinander in Beziehung treten, dass das Mögliche im Unmöglichen Wirklichkeit werden kann. Dabei treffe ich auf eines der ältesten Geheimnisse Mesopotamiens und erfahre Welt und das Leben aus einem neuen Blickwinkel. Aus dieser Perspektive begreife ich, dass nur derjenige gewinnen kann, der niemals aufhört, lernen zu wollen.

Autor

Paruar Bako

Format

DIN A5

Seitenzahl

320

Veröffentlichung

27. September 2021

Cover

Softcover

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LESEPROBEN

01 

3. August 2014

Es ist heiß am 3. August 2014, dem Tag, der mein Leben für immer verändern wird. Das Eis schmilzt schneller als ich es essen kann. Um zu verhindern, dass es mir die Finger verklebt, verdrehe ich mir den Kopf und lecke die Waffel ab, als mich dann plötzlich jemand beinah über den Haufen rennt. Ich kenne ihn vom Sehen. „Ey, habt ihr schon gehört? In Shingal gab es einen Überfall“, ruft er uns zu. Meine Kumpels und ich schauen uns schulterzuckend an. Ist zwar bedauernswert, aber da unten gibt‘s dauernd irgendwelche Anschläge … in den Blicken meiner Freunde erkenne ich denselben Gedanken. Shingal ist das jesidische Kernland im Nordwesten Iraks. So heißt auch die größte Stadt in dieser Gegend, die inoffizielle Hauptstadt der Jesiden. Also gehen wir weiter. Da rennen weitere Jungs, die wir vom Sehen kennen, schreiend an uns vorbei: „In Shingal passiert gerade was!“ Abgestumpft wie wir sind, begreifen wir die Aufregung immer noch nicht. Es ist eben der Irak. Als wir auf das afrikanische Telecafé zugehen, beginnen wir langsam, den Ernst der Lage zu verstehen. Das Telecafé ist ein Stück Kindheitserinnerung für mich. Weil es kaum bezahlbare Telefontarife in den Irak gibt, kommen die meisten Familien für Telefonate in die Heimat hier her. Im Eingangsbereich kaufst du dir für fünf Euro eine Karte. Die rubbelst du frei und hast dann mindestens 60 Freiminuten. Seit ich denken kann, liegen diese Karten überall in unserer Wohnung rum. Die neun Telefonboxen sind gerade einmal so groß, dass man in ihnen stehen kann. Jede einzelne ist besetzt. Besetzt mit Menschen, die verzweifelt versuchen, Kontakt mit ihren Familien und Freunden aufzunehmen. Davor drängt sich dicht an dicht eine wogende, aufgebrachte Menge. Sie warten ungeduldig, aber dennoch still auf die spärlichen Informationsfetzen, die aus den schallreduzierenden Boxen herausdringen. Wir fragen einen kleinen Jungen, der mit den Einkaufstüten vor dem Eingang des Cafés wartet, was los ist…

02 

Alles war in der Perle

Der Blick von den sanften Hügeln auf die mesopotamische Landschaft kann noch immer den Eindruck erzeugen, dass man dort in der Ewigkeit steht. Der Tigris ist hier besonders breit, er hat über die Jahrmillionen Buchten und kleine Fjorde in die hügelige Landschaft gemahlen, und wer sich von Khanke aus seinen Ufern nähert, den erinnert nur sein Wissen daran, was in dieser Weltgegend an menschlichen Dramen schon vor sich ging, in diesem Augenblick vor sich geht und, so ist zu befürchten, auch in Zukunft vor sich gehen wird – wenn sich nicht endlich etwas ändert. Dreht man sich um, gewärtigt man Hieronymus Boschs reales Dystopia, ein unübersichtliches Chaos von zusammenhanglosen Arrangements armseliger Flachhäuser, Baracken, fertiger und halbfertiger Paläste sowie im Wind flatternder Flüchtlingszelte aus Plastik. Massenhaft Unrat und Müll, dazwischen kreuz und quer fahrende Autos, herumirrende Hühner, Schafe, Ziegen, Menschen. Als hätte das Chaos Methode, stellt sich an den Ufern des Tigris das Gefühl von Zerrissenheit vielleicht auch deshalb ein, weil sich hier über die Jahrtausende so viele philosophische, religiöse und mystische Strömungen ineinander verknotet haben, eigentlich dazu da, die Begrenztheit der menschlichen Psyche zu heilen, die Unfähigkeit unseres Denkens also, die Endlichkeit allen Daseins in der Unendlichkeit zu erfassen. Man könnte darüber reden, diskutieren, man könnte es zum Anlass nehmen, lernen zu wollen, klüger zu werden, vielleicht sogar weise. Wie wir wissen, ist das Gegenteil eingetreten: Die wieder und wieder unternommenen Versuche, metaphysische Ideen vom Jenseits in die Wirklichkeit zu übertragen, haben tausend Höllen erschaffen…